Das Herz ist ein einsamer Jäger

Obacht: Mal ganz was anderes. Und gerade deshalb sind Kommentare willkommen.

Der Schuss war von hinten gekommen: Der Mörder hatte die Pistole – die Polizei stellte später fest, dass es sich um eine P8 handelte – aus nächster Nähe auf den Hinterkopf gesetzt und abgedrückt. Der Tod muss sofort eingetreten sein, versicherten die Polizeiexperten der geschockten Witwe. Sie ersparten ihr die Identifikation, denn von Neuburgs Ehrenbürger Alois Grahammer war nicht mehr viel zu erkennen. Die Kugel riss beim Austritt aus dem Kopf einfach ganze Teile des Gesichts weg. „Wahnsinn“, sagte Thomas Ablassmeier in der Redaktion der Neuburger Nachrichten. Und legte das Fax der Polizei wieder auf Victor Lodes Schreibtisch: Und noch einmal „Wahnsinn.“

Natürlich hatte niemand damit gerechnet, dass das beschauliche Sommer-Leben der Stadt so brutal gestört werden könnte. Die Neuburger Polizei hatte bisher vor allem mit Parksündern zu kämpfen, gelegentlich Familienstreitereien, immer mit betrunkenen Jugendlichen, mal Scherereien auf einem der Volksfeste. Seit die Bundeswehr ihre Neuburger Heereskaserne dicht gemacht hatte, torkelten aber nicht einmal mehr volltrunkene Wehrpflichtige durch die engen Gassen der Altstadt. Den einzigen großen Kriminalfall hatte die Polizei völlig vergeigt. Eine Familie hatte den Ehemann und Vater erschlagen und an die Hunde verfüttert. Die Polizei hatte das ihrige dazu beigetragen. Statt die Beweise zu sichern gab sie den blutgetränkten Pullover an die Familie zurück, verfolgte Spuren nicht und schluderte auch sonst, bis die Kollegen aus Ingolstadt den Fall übernahmen.

Und jetzt wieder ein Mord.

Am helllichten Tag war Alois Gramhammer erschossen worden. Zwar nicht gerade mitten in der Altstadt, immerhin doch in einer der beiden Straßen, die in die obere Altstadt Neuburgs führten. Die Amalien Straße kommt von einem leichten Hügel, führt hinab durch das obere Tor und mündete in einer Art Straßendelta, in dem kaum Verkehr herrscht. Es wird vielmehr geprägt vom in den Pfingstferien ruhigem Descart-Gymnasium und einem oder zwei Geschäften: „Wenige Passanten – keine Zeugen“, sagte Ablassmeier zu Victor, der versuchte in Ruhe den Aufmacher für den morgigen Tag zu schreiben. Das fiel ihm schwer genug. Einerseits waren die Fakten, die der Polizei vorlagen, oder die die Polizei rauszurücken bereit war, sehr dürftig. Andererseits war auch Victor, wie die meisten anderen Neuburger, von der Nachricht des Todes des alten Lokalpolitikers bestürzt und erschrocken. Und Thomas’ Kommentare waren nicht weiter hilfreich.

Selbst der abgebrühte Willi Gross – sonst mit einer Lokalseite der Donau-Nachrichten schärfster und einziger Konkurrent der Neuburger Zeitung – war offenbar so überrascht, dass ausgerechnet er die Kollegen der Neuburger Zeitung informiert. „Der Grahammer ist erschossen worden.“ hörte Victor aus seinem Telefon hauchen, als er gegen 11 Uhr den Hörer abnahm. Später war Victor von sich selbst überrascht, wie professionell er reagiert hatte: Der erste Anruf galt der Polizei, um zu überprüfen, ob Gross ihn auf den Arm nehmen wollte. Das konnte sich Victor zwar nicht vorstellen, denn mit dem Tod trieb nicht einmal Willi Gross seine Scherze. Aber sicher war sicher. Als die Polizei zumindest aufgeregt und hölzern bestätigte, dass es „zu einem größeren Vorfall, vermutlich mit Personenschaden“ gekommen war, wählte Victor als nächste die Telefonnummer von Xaver Habermeyer, dem freien Fotografen. Er sollte sofort zur Amalien Straße und sehen, was es zu fotografieren gab. “Keine Ahnung, was da ist“, sagte Victor dem verdutzten Xaver, „mach am besten Fotos von Absperrbändern, Männer der Spurensicherung. Meingott, Polizeifotos eben.“ Kaum hatte Victor aufgelegt, fiel ihm noch was ein: Er drückte die Wahlwiederholungstaste. Xaver hatte den Hörer noch in der Hand. Ohne Umschweife redete Victor weiter: „Und schau in Dein Archiv. Wir brauchen alle Grahammer-Fotos aus den letzten zwanzig Jahren.“ Xaver versprach zu suchen, gleichzeitig los zu fahren und sich vom Tatort zu melden. Dann erst strömte aus dem Fax die erste offizielle und kurze Presseinformation der Polizei, die Ablassmeier Lode auf den Schreibtisch legte.

Die Überraschung und der Schock stand der kleinen Neuburger Redaktion genauso ins Gesicht geschrieben wie der gesamten Stadt: Sie alle hatten einen guten Draht ins Rathaus, und kannten Grahammer: „Ich hab vorgestern noch mit ihm zusammen gesessen.“, sagte Lokalchef Wimmer entgeistert. „Wir haben die Parkordnung diskutiert. Ich wollte sie in der Wochenendausgabe kommentieren“. Denn der morgige Aufmacher sollte die neue, von Grahammer geplante Parkordnung der Stadt erklären. Ein Thema, das zwar niemanden vom Sockel riss, aber doch alle anging: Und in den Pfingstferien war es eines der besten möglichen Themen. Bis vor wenigen Minuten. Wie ironisch, dass ausgerechnet der Bericht über sie einer ganzen Seite über seinen Tod weichen musste.

Ein Rückblick auf sein Leben, ein Bericht über seinen Tod, und viele Fotos würden stattdessen am Donnerstag die erste Lokal-Seite der Neuburger Nachrichten füllen. Am Freitag würden weitere Hintergrund-Berichte folgen, Stimmen, Kondolenzen.

Victor schrieb eine kurze Zusammenfassung für die Bayern-Seiten der überregionalen Ausgabe. Ein Mord war immer interessant, der an einem Politiker doppelt. In einem deutlichen Telefonat überzeugte Victor die Kollegen der Zentralredaktion, nicht zu sehr auf den Putz zu hauen. Wenn sie wilde Verschwörungsthesen in den Umlauf brachten, gar vom politischen Gegner fabulierten, der nun einen Nutzen aus dem Tod zog, waren es schließlich die Neuburger Redakteure, die dafür wochenlang mit dem Schweigen der ansässigen Politiker gestraft wurden, vielleicht sogar schlimmer. Denn wer sonst sollte der Zentralredaktion diese infamen Tipps gegeben haben? „Mein Text muss so in die Zeitung, wie ich ihn geschrieben habe“, betonte Vic dem Leiter des Bayern-Ressorts gegenüber. „Kein >Freie Wähler vor dem Durchbruch?<“ oder >Warum schweigt die Opposition?<, ok? Kein Mensch weiss hier, was geschehen ist, und es sind alle erschüttert. Echt.“ „Lode, das ehrt Sie ja, dass Sie das so edel sehen. Wenn die Story aber wieder in der BILD steht und wir bei denen abschreiben müssen, hängt uns beiden der Arsch ganz niedrig in der Hose, klar?“ Vic wusste worauf Roller anspielte: der Fall der Heinrichsheimer Familie war zu erst in der BILD zu lesen gewesen, dann beim Donaukurier und dann erst in der Neuburger Zeitung. Damals hatte auch Victor versucht die Geschichte wasserdicht zu recherchieren, bevor er sie drucken wollte. Das kostete aber mehr Zeit als er hatte, und so ging wieder eine große Geschichte an ihnen vorbei.

Der Text stand wie verabredet auf der Bayernseite der Zeitung. Und harmonierte damit auch mit den Seiten im Lokalteil, die die Redaktion noch in harter Arbeit zusammengestellt hatte: Ein Lebenslauf, untadelig und voller Erfolge für die Stadt. Zehn Fotos, die zeigten, wie sich Grahammer und mit ihm die Stadt verändert hatte, Stimmen zum Tod, die alle durchwegs voller Trauer und Ehrfurcht waren, „Zu früh gestorben, plötzlich aus dem Leben gerissen. Unvorstellbar… Gottes Weg ist schwer nachzuvollziehen, Arme Familie…“ Manchmal glaubte Victor es gebe ein Nachschlagewerk, in dem sich Prominente in solchen Fällen bedienten: „Du bist herzlos“, schimpfte ihn für diesen Verdacht Thomas während er noch ein Foto aus der Seite austauschte. Er nahm eines der alten heraus und fügte eines ein, dass er selbst gemacht hatte: Das brachte ein Bild-Honorar, was sich am Ende des Monats schön summierte. Ganz hinten die Todesanzeigen der Neuburger Prominenz. Der Tod war ein gutes Geschäft.

Die Stadt erstarrte.

Die Ermittlungen drehten sich im Kreis: Es gab praktisch keine brauchbaren Zeugen. Die wenigen, die etwas gesehen zu haben glaubten, widersprachen sich. Mal war der Täter groß, mal klein, mal dunkel, mal weiss, mal Frau, mal Mann. Erstaunlich, wie wenig man wahr nimmt, dachte Victor. Die Polizei durchleuchtete das Privatleben des Politikers: Gab es üble Machenschaften in der Partei? Hatte die Ehefrau einen Freund? Rechnete die Tochter Arzt-Belege der privaten Krankenkasse falsch ab? Bald untersuchten die Beamten jedes noch so abstruse Motiv. Gerüchte tauchten auf, aber keines ließ sich zu einer Quelle verfolgen, keines hatte Bestand: Grahammer war ein völlig sauberer Mann. “Allein deshalb ist es schade, dass er erschossen wurde. Ein Saubermann in der CSU, das ist doch was, hmm? Ob die noch einen haben?“ fragte Thomas Vic eines Tages. Irgendwer machte Asylbewerber für die Sache verantwortlich: Dieser irgendwer meinte „…die hätte wegschicken müssen wie die anderen, damals. Die … Gablonzer damals!“ Das hätte der Grahammer ganz richtig gemacht. Victor grübelte: Sollte er diese Bemerkung veröffentlichen? Leistete er damit dumpf-rechten Parolen Vorschub, oder beginnt so eine Diskussion, die hilft, das Klima zu verbessern? Victor entschied sich für Streichen und machte einen dicken schwarzen Balken über den Namen des Mannes und dessen erboste Ausrufe.

Immerhin fragte er den Lokalchef nach der Geschichte mit den Gablonzern. Der alte Wimmer erzählte, dass in jener Nacht nach dem Krieg ein Zug mit Flüchtlingen aus Gablonz in Neuburg gehalten hatte. Sie sollten hier aussteigen und sich sesshaft machen, vielleicht auch weiter ziehen, jedenfalls hätten sie zunächst hier bleiben sollen. „Aber sie waren unbeliebt, wie alle Flüchtlinge nach dem Krieg, stimmts?“ fragte Victor. „Stimmt“, sagte Wimmer, „Grahammer hat damals den Protest geführt. Er hatte den Mut den ersten Waggon wieder zu schließen.“ Dem Beispiel folgten andere Neuburger. Schließlich zwang irgendwer den Lokführer, weiter zu fahren. „Gottweiss, wie er das gemacht hat. Jedenfalls fuhr der Zug weiter. Später ist bei Kaufbeuren die Stadt Neugablonz entstanden. Schreckliche Gegend. Müssen Sie sich mal angucken. Ganz schrecklich.“ Wimmer schaute einen Moment auf seine Hände, schnaubte, und schüttelte den Kopf. Victor spürte, dass Wimmer Grahammers Verhalten damals gut geheißen hatte. So war der netten historischen Stadt Neuburg eine Entwicklung erspart geblieben, die Kaufbeuren offenbar durchmachte. Er würde sich die Stadt der Flüchtlinge mal ansehen.

Nach Wochen der Ermittlungen veröffentlichte die Polizei nur ein einziges Indiz: Die Pistole war eine P8, eine Bundeswehrwaffe. ,Immerhin nix aus dem Osten’, dachte sich Vic: Das hätte auf den gesamten Ostblock oder eine der kleinen neuen Republik in Jugoslawien hinweisen können: Da kannte sich ohnehin kaum noch ein Mensch aus, er schon gar nicht. Unüberschaubar.

Vic fand es besser, wenn die Mörder aus der eigenen Gegend kommen, heimisch sind. Das machte es Victor leichter irgendwie einen Grund für die Tat zu konstruieren: Jahrhunderte alte Feindschaften im Dorf etwa. Oder vielleicht hatte irgendwer bei einer Frau den Kürzeren gezogen (haha) und Jahrzehnte später Sühne gefordert? Ein lang zurückliegendes Grundstücksgeschäft, bei dem sich der Verkäufer oder Käufer betrogen fühlte? Ein Unfall, bei dem das einzige Kind ums Leben kam, und dessen Schuld bei Grahammer lag? Vielleicht reichte als Motiv auch, das Grahammers Tochter die Königin der Märkte geworden war, und nicht die Tochter des Mörders, der das soviel bedeutet hätte? War nicht bis heute unklar war der Mörder von Hinterkaifeck gewesen war? In diesem winzigen Weiler am Rande des Donaumooses war vor über 80 Jahren alle Bewohner eines Hofes gemeuchelt worden; Magd, Knecht, Familie, Kleinkind, nur die Tiere waren einige Tage versorgt worden. Alles andere blieb unklar, ob wohl es in den folgenden Jahrzehnten zahllose Theorien gab. Allein der Mörder wurde nicht gefunden. „Hinter vorgehaltener Hand erzählt man sich, der Mörder sei erst vor kurzer Zeit gestorben, und seine Nachkommen leben noch. Seien Sie vorsichtig, wenn Sie in der Gegend sind und über diese Geschichte reden. Bestenfalls ernten Sie ein Veilchen“, hatte ihn der Lokalchef gewarnt, als Victor nach Neuburg kam.

Neben solchen weisen Ratschlägen verdankte er seinem Chef auch seine Wohnung. Diese hatten neben der guten Aufteilung der immerhin sieben Zimmer in der oberen Altstadt in Neuburg eine zweite Besonderheit: Er musste drei Verträge unterschrieben. „Nach dem Krieg, als doch ein paar Flüchtlinge auch in Neuburg unterbracht wurden, waren das drei Wohnungen: die zwei Zimmer, und diese zwei und die drei“, deutete der Vermieter, ein alter Bäckermeister, die Lage an. Aus Familien intern Gründen wurden die drei Verträge weiter beibehalten: „Die hinteren beiden Zimmer sind übrigens auch noch vermietet. Aber die haben weder Wasser und Küchenanschluss und keinen Zugang zu Tür: Sie können sie also unbesorgt nutzen.“ Victor fand das damals ein wenig skurril, aber die Wohnung auch schön und bezahlbar. Also ging er das Risiko ein, das er sich eines Tages vor Gericht finden konnte, auf Zugang zu seinen beiden hinteren Räumen von der ungeliebten Schwägerin seines Vermieters verklagt. Immerhin würde das eine prima Geschichte für die Zeitung abgeben und er musste dann noch nicht einmal einen freien Mitarbeiter schicken. Er würde die Geschichte selber schreiben können. Selbst verständlich ganz unvoreingenommen.

Victor glaubte es könnte Gründe für diesen Mord geben, die er als Nicht-Einheimischer – er war in Hamburg geboren – nie würde ergründen oder nachvollziehen können, die aber da waren. Immer noch besser als von einem durchgeknallten Irren einfach erschossen zu werden, nur weil man eben dort nach Hause radelte. Die Tatwaffe P8 wertete Victor als Hinweis auf einen Zusammenhang mit Grahammer, denn es geben musste. Doch die Polizei machte sich keine Hoffnungen: Über die Waffe an den Täter kommen zu wollen, erwies sich schnell als Irrweg. Es gibt über Deutschland verteilt Tausende dieser P8. Zwar sind die meisten sehr genau überwacht, aber immer wieder sind bei Überfällen auf Kasernen Waffen abhanden gekommen. Die waren erst in den Händen der Roten Armee Fraktion, später, als sie zerfiel, gelangte sie auch in die Hände von gewöhnlichen Kriminellen, wurden unter Ladentischen und in dunklen Ecken weitergereicht, bis sich ihre Spuren völlig verloren.

Ein weiterer Umstand erschwerte die Suche nach dem Mörder – selbst wenn eine Waffe gefunden werden sollte, in Neuburg einen dazugehörigen Schützen auszumachen wäre schwierig gewesen. Dummerweise hatte das Geschwader gerade Schusswochen: Nach diversen Übungen in den Schiessständen hatten alle Soldaten irgendwie Schmauchspuren an den Händen und Jacken, irgendwie ist mit allen Waffen in letzter Zeit geschossen worden. Munition fehlte dafür nirgendwo. Eine Waffe ebenfalls nicht. Alle Waffenbücher sind einwandfrei von mindestens zwei Personen abgezeichnet.

Nichts fehlte. Das sagte die Bundeswehr auf allen Kanälen, und hat sogar die örtlichen Medien eingeladen, sich ein Bild von der wohlgehüteten Waffenkammer des Neuburger Geschwaders zu machen. Überregionale Medien waren ebenfalls eingeladen, kamen aber traditionell nicht. Victor ging ebenfalls nicht hin. Er kannte die Räume gut genug, um dem Geschwader Glauben zu schenken. Genau abgezählte Waffen, sauber in Spezialregalen platziert, eingelegt in einem dumpfen Geruch nach Öl. Der Waffenmeister registrierte jede Änderung und trug sie penibel in ein Buch ein, dass sein Unteroffizier auch noch abzeichnete: Das vier Augen-Prinzip. Die Fenster massiv vergittert, die Wände aus Stahlbeton, die Panzertür eigens hinter einem ebenfalls vergittertem Flur, in dem sonst nur noch der Sicherheitsoffizier sein Büro hatte neben der VS-Registratur, die alle geheimen Fernschreiben und Befehle sammelte und verwaltete. „Kein Chance, an eine Waffe zu kommen, ohne das es bemerkt wird“, wie der Sicherheitsoffizier immer wieder betonte. Keine Chance.

Und in den anderen Kasernen der weiteren Umgebung waren ebenfalls in den vergangenen Jahren keine verschwundenen Waffen gemeldet worden, die man irgendwie mit dem Neuburger Mord in Verbindung hätte bringen könnte. Überhaupt und immerhin lag die Masse der Pistolen noch sicher hinter dicken Panzerwänden in den Kasernen und Depots der Bundeswehr. Unerreichbar für Gelegenheitsmörder.

Keine Waffe, kein Mörder, kein Motiv. Es blieb eine völlig unvorstellbare Tat. Die Polizei begann von einem wahnsinnigen Mörder zu sprechen. Die Bevölkerung fürchtet sich deshalb latent, solange niemand gefasst wurde. Andererseits glaubte niemand so recht, dass ein Wahnsinniger sich ausgerechnet einen Ehrenbürger aussucht, um ihn zu töten. Doch wie alle Beteiligten das Blatt auch wendeten: Es führte keine auch nur so winzige oder sichtbare Spur zu einem Mörder oder zu einem Motiv. Irgendwann übernahm den Fall wieder die Kripo Ingolstadt. Die Akte lag bei einem Polizeibeamten, der sie in Ruhe lesen und eines Tages auch wieder öffnen würde.

Ein Jahr vergeht.

Victor schreibt das Kalenderblatt für Pfingsten vor. Dann hat er mit der Ecke auf der ersten Lokalseite, in der längst vergangenen Zeiten gedacht wird, in gut zehn Tagen weniger Arbeit: Er hat immer Spaß an dem Auswählen der alte Ereignisse. Mal sucht er einen Sammelband von vor 25 Jahren aus und amüsiert sich über die Dinge, die damals geschahen, mal welche, die erst jüngst zurück liegen. Jetzt entscheidet er sich für das vergangene Jahr. Überrascht stößt er auf seinen eigenen Artikel: Vor einem Jahr wurde Grahammer ermordet, der Täter immer noch nicht gefunden. Ein guter Denkstein, findet Victor: Überhaupt solle dieser rätselhafte Mord wieder in die Zeitung. Wie die Zeit vergeht, überlegt sich Victor.

Vic nutzt seinen freien Nachmittag, um in der ,Traube‘ ein Bier zu trinken, die neuesten Gerüchte zu hören und ein bisschen abzuschalten. Der Wirt erzählt von den neuen Denkmalschutzauflagen der Stadt, welche Figur er dieses Jahr beim Schlossfest verkörpern will und dass ein Gast nicht wieder gekommen wird. Er kam immer: „Wirklich immer zu Pfingsten, und immer zwei Wochen“ sagt Willy, der Wirt. „Vielleicht hast Du ihn mal sitzen sehen?“ fragt der Wirt Victor: Vic mochte sich dunkel erinnern. Aber wer erinnerte sich schon an einen Touristen, der nur ganz bestimmte Tage da war? „Macht auch nix“, meint Willy, als Victor verneint: „Er saß fast nur rum. Allein.“ Er schien damit glücklich gewesen zu sein bei guten Wetter im Garten der ,Traube‘ zu sitzen, und stundenlang Tee zu trinken. Er beobachtete die Menschen um ihn herum, die Touristen, die Bewohner der Altstadt, die anderen Gäste, manchmal auch nur die Tauben. Manchmal war er aufgesprungen, und weg gelaufen. Meisten kam er nach ein paar Minuten wieder. Anfangs – in den ersten Jahren – hatte der Willy ihm noch den Tee weggenommen, später ließ er ihn stehen, bis er kalt war und sein Gast einen neuen bestellte. „Man stellt sich ja auf seine Gäste ein, gell?“ Grabowski hieß er. Richtig. Gerd Grabowski. Victor nickt, Jajaja, Grabowski. Warum er wohl nicht mehr kommt? fragt der Wirt in die Luft. Ob ich ihn mal anrufe? „Nein“, sagt Victor, „das geht nicht. Schon mal was von Datenschutz gehört?“ „Dann sag ich Dir auch nicht, wo er herkam, der Gerd“, zieht ihn der Wirt auf, „vielleicht ist er einfach gestorben?“ sinniert er weiter. Und Vic lässt es gut sein. Später drängt Vics angeborene Neugier doch noch, er will es wissen: Er fragt, und bekommt den Namen auch genannt. Neugablonz.

Das weckt Victors Neugier endgültig, und er nimmt die Spur des Mannes auf, mit Hilfe der Kollegen der Allgäuer Zeitung. Journalisten und vor allem Lokaljournalisten kennen Gott und die Welt. Viele Bewohner der der Allgäuer Orte haben die Lokalzeitung abonniert und allein aus den Abo-Daten lässt sich schon das ein oder Indiz ablesen: Der Wohnort, seit wann die Zeitung abonniert wurde, und wo der Leser sein Konto hat. Warum also sollten die Kollegen nicht etwas über jenen Gast erfahren können? Und tatsächlich kennnt …., ein älterere Kollege aus der Kaufbeurer Redaktion, Grabwoski – die Welt ist ein Dorf, denkt Vic und hört seinem Kollegen am Telefon aufmerksam zu. Er erfährt, dass der Mann bei der Bundeswehr in Memmingen arbeitet. Er war sogar erstaunlicherweise Abonnement der Neuburger Nachrichten, wie Möller mit einem Blick in den Vertriebs-Computer sieht. Victor kommt das komisch vor. Zumal dieser Mann das Abo kurz nach dem Tod des Politikers gekündigt hat. Viel mehr ist nicht heraus zu bekommen. Irgendwie steuern die Allgäuer noch ein paar Daten aus dem Einwohnermeldeamt bei: Wo er wohnt, bescheiden, unverheiratet, keine Familie, einfach: unauffällig.

Erst viel später fragt Vic noch mal nach dem Job des Mannes. „Komisch, dass Du das fragst“, sagt sein Allgäuer Kollege in einem schier unverständlichen Dialekt. Grabowski hat gerade sein Job als Unteroffizier verloren: Plötzlich unzuverlässig geworden, seit einem Jahr etwa. Victor denkt noch mal über die Bundeswehr-Pistole nach, und besucht den Sicherheits-Offizier des Neuburger Geschwaders. Vic lässt sich – diesmal allein – erneut die Waffenkammer zeigen, erklären wie die Munition abgezählt wird. Victor erklärt dem Sicherheitsoffizier was er vermutet und nach einigen Überredungsversuchen gibt Oberstleutnant Langerer nach: Sie öffnen und schließen immer wieder die gesicherte Tür zur Waffenkammer, bis Victor erreicht hatte, was er wollte.

Dann fährt er nach Neugablonz, kommt in die trostlosen Vororte, Stehkneipen und Pilspubs mit Namen wie „Zur Einheit“, „Erinnerung“, „Deutsche Eiche“ versuchen Gäste in winzige Kneipen zu locken, deren finstere Fenster mit vergilbten Gardienen verhängt sind. Heimatvertriebene, die ihr Leid und ihr verlorenes Zuhause pflegen und dabei nicht heimisch werden in der neuen Heimat. Hupka aller Orten, Schlesien ist unser: Geht doch rüber, denkt Vic, jetzt gehört es euch doch wieder. Aber er kann nicht ermessen, was Heimat bedeutet, sie fehlt ihm ja auch. Dennoch ahnt er, dass es dieses Leben nicht ist: Jahrzehnte lang in Kneipen sitzen und kollektiv der längst veränderten Heimat nach trauern.

Er besucht das Geschwader und geht in die Geschwader-Bar. Gebaut von Wehrpflichtigen. Der Mann, den er sucht, der ist schon lange nicht mehr da. Abgestürzt – wer weiß warum? Sein Nachfolger – irgendwer profitiert immer von einem Absturz – nennt Vic die Kneipe, in der Grabowski immer sitzt. Und erklärt ihm wie er am schnellsten durch die geraden Straßen der künstlichen Stadt findet. Vic findet ihn schließlich in seiner Kneipe, die nicht „Heimat“ heißt, sondern schlicht „Bei Resi“, als hatte Grabowski versucht doch Fuß zu fassen. Zu trinken gibt es Bier vom Allgäuer Brauhaus.

Grabowski schaut ihn aus dunklen Augen an, eine kleine Warze über dem einen Augenlid, es muss beim Sehen stören, denkt Vic, das Gesicht ein bisschen eingefallen, um die Augen verquollen. Bis vor zwei Minuten hing er noch über dem Tresen, redet über die gute alte Zeit, erzählt seinem gelangweiltem Nebenmann von Geschwadereinsätzen, die nie zu enden schienen und von Kameraden, die vermutlich schon lange ihre Pension genossen. Jetzt schaut er auf den Neuangekommen, den Fremden in seiner Kneipe. Hatte Grabowski Victor erwartet?

Vic sagt: „Ich bin aus Neuburg. Ich weiß, was Sie getan haben.“

„Wer bissst Du?“ fragt Grabowski und scheint ihn erst jetzt richtig wahrzunehmen. „Neuburg? Kenn ich nicht. Unsinn, was soll ich schon getan haben?“ Sein Blick wandert zu seinem Bierglas, das noch halb mit schon abgestandenem, schaumlosem Bier gefüllt ist. Er schüttelt das Bier geschickt auf und trinkt das Glas fast auf einen Schluck aus. Mit dem leeren Glas winkt er der Frau hinter dem Tresen, die sofort beginnt ein neues zu zapfen. Man kennt sich. Der Nebenmann nutzt den Moment, in dem er unbeobachtet ist, und geht.

Vic blickt in ein zerstörtes Leben. „Ich weiss, was Sie letzte Pfingsten in Neuburg getan haben. Ich bin von der Zeitung. Ich habe diese Geschichte lange recherchiert.“ sagt er zu ihm und wartet. Als würde es ihm mehr Gewicht verleihen oder Schutz bieten holt er seinen Presseausweis hervor und wedelt damit vor Grabowskis Gesicht. Dessen Augen sind einzig auf das Bierglas gerichtet, das schnell gefüllt wird, weißer Schaum wirbelt und steigt auf, schwappt über, und ergießt sich auf das löchrige Edelstahl, versickert spurlos. Was nicht sofort verschwindet, wird von der Wirtin mit einem alten Lappen und einer schnellen Bewegung weggewischt.

Victor ist erfüllt von Wut und Enttäuschung, von Ärger, dass es irgendwer sich heraus nimmt, jemand anderen zu töten. Dass er nun diesem Mann gegen übertritt, er sich als Racheengel fühlt. Erst jetzt scheinen Vics Worte bei Grabowski an zu kommen. Er richtet sich ein wenig auf, stützt sich auf dem Tresen ab, gerade soweit um sich Vic ein wenig zuwenden zu können.

„Wissen Sie das wirklich?“ fragt Grabowski, „wissen Sie, was ich getan habe?“

„Sie haben ein Leben ausgelöscht, es aus dieser Welt gerissen“, sagt Victor.

„Ja“, sagt Grabowski, „das habe ich getan. Meines. Vor langer, langer Zeit.“ Er füllt seinen Mund mit Bier, schluckt. Er schafft fast das ganze Glas auf einen Zug, und winkt schon wieder der alten Frau hinter dem Tresen. Resi, vermutet Victor. Sie beginnt gleich wieder zu zapfen.

Victor setzt sich mit einer Pobacke auf den Barhocker neben Grabowski. Als Resi ihn fragt ob er was trinken will, fragt er nach einem Pfefferminztee. Dann bestellt er „ein kleines Mineralwasser ohne Zitrone“. Resi schaut verständnislos, dann unsicher zu Grabowski. Jetzt entscheidet sich Victor doch für ein Bier, Allgäuer Brauhaus, es wird ihn beruhigen, hofft er. Ein kühles Bier.

„Grahammer. Mit einer Bundeswehr-P8. Sie sind Waffenmeister gewesen. Also kommen Sie an die Waffe. Sie haben Sie einfach eingesteckt, nachdem ihr Unteroffizier bei irgendeiner Kontrolle bestätigt hat, dass alles in Ordnung ist. Ganz einfach. Als sie raus gingen konnten Sie noch an ein Regal greifen, das direkt neben der Tür steht. Von dort die Pistole einstecken, die gerade noch als im Regal gelagert registriert wurde. Das habe ich mit dem Neuburger Sicherheitsoffizier geübt: Steht der Unteroffizier bereits draußen kann man hinter seinem Rücken noch eine Pistole greifen und hinten in den Hosenbund stecken. Nicht ganz einfach, aber es geht.“

„So. Ach. Warum sollte ich das tun? Ich bin ein ehrlich Mann. Ich habe nichts getan! Ich habe über 40 Jahre lang dieser Republik gedient. Hier.“ Grabowski nestelt an seinem Hemd herum. „Ich habe Auszeichnungen.“

„Sie haben es getan. Ich weiss nur nicht, warum. Warum Grabowski? Warum haben Sie Grahammer erschossen?“ Victor wird laut und Resi zuckt ein wenig zusammen, scheint aber nicht wirklich beunruhigt zu sein. Ihre Hand liegt auf dem Zapfhahn, die andere ruht in der Hüfte. Das wichtigste ist, zu erkennen, wann das nächste Bier bestellt wird.

„Kein Mensch kontrolliert, ob nach Geschwaderschiessen die gesamte Munition wirklich verschossen wurde. Übrig gebliebene Munition wird einfach geladen und in den Boden geschossen. Dann muss man sie nicht zurückgeben. Das ist für die Buchhaltung einfacher. Das wird in der ganzen Bundeswehr so gehandhabt. Also auch bei Ihnen. Darüber spricht aber niemand. Das kommt Ihnen entgegen. Immer wieder verschwindet dabei die ein oder andere Kugel in Ihrer Tasche.“ Victor stößt die Sätze aus, als schieße er mit einem automatischen Gewehr. „Sie haben die Pistole, Sie haben die Munition. Über Jahre angesammelt. Was haben sich noch angesammelt, damit Sie einfach einen Wildfremden erschießen können?“

„Wildfremden?“ Grabowski dreht zum ersten Mal den Kopf zu Vic. „Wildfremd?“

„Nach dem Mord letztes Jahr haben Sie die Waffen wieder in die Waffenkammer gelegt. Kein Problem. Niemand außer Ihnen und Ihrem Unteroffizier kontrolliert die Bestände. Es sei denn es liegt ein besonderer Grund vor: Der lag aber nicht vor. Warum auch? Die Waffenkammer wird ja von einem äußert gewissenhaften Mann verwaltet. Von Ihnen. Einem Mörder.“

Victor überlegte sich das nächste Wort sehr gut: Hatte er wirklich Respekt? Wollte er Grabowski zum Reden bringen und ihn deshalb loben? Noch bevor er sich über seinen Motive entschieden hat, spricht er das Wort aus: „Ausgefuchst!“

Jetzt spürt Victor wie er sich von Grabowski distanzierte. Nein, ausgefuchst war er nicht. Er war furchtbar. Jetzt wollte Vic nur noch Grabowskis Geschichte hören und aufschreiben.

„Ach… das meinen Sie. Wie heißen Sie?“ Victor sagt es ihm. „Auch nicht von hier, hmm? Fischkopp? Sind Sie hier zu Hause?“ „Ich lebe sehr gerne in Neuburg“, sagt Victor, merkt aber, dass Grabowski das weder hören wollte, noch seinen Worten überhaupt Aufmerksamkeit schenkt. „Tja, ich bin auch nicht von hier. Ich bin ein nirgendwo Gebliebener.“ Grabowski hatte das sicher schon öfter gesagt. Es kommt ihm locker über die betrunkenen Lippen.

„Ich bin Schlesier. Als ich hier ankamen, war ich Waise: Ich hatte keine Familie mehr, keine Schwester, ich war allein. Wissen sie wie das ist, als Kind allein zu sein?“

Grabowski schaut in sein Bierglas. Victor schüttelt den Kopf, er hatte Geschwister, Familie.

„Die Kemptener haben uns beschimpft, wir waren wie Aussätzige, die Flüchtlinge, ‚Puffnuken’ haben sie uns hinter hergerufen.“ Er lacht kurz. „Ich habe die Schimpfworte am Anfang nicht einmal verstanden: Das Bayerisch…“ Er kam irgendwie aus dem stinkenden Eisenbahnwaggon, und blickte auf seine tote Familie. Er hatte nicht gewußt, was er mit den Toten tun sollte, wo und wie sie beerdigen, welcher Pfarrer sich erbarmen und ein Worte an den Gräber sprechen würde, wer ihm Trost spenden sollte. Er war doch ein Kind! Also rannte er weg. Irgendwo in die Wälder. Hinter sich die Toten und die Rufe: „Flüchtling! Geh doch zurück! Hau ab!“ Ein kleines Kind im Wald.

„Ich lebte hier unter wirklich schlimmen Bedingungen, mich wollte niemand, ich war ein Esser, der nichts brachte: Die erste Zeit hauste ich schier im Wald, dann fand ich eine Familien, die mich aufnahm, keine schöne Zeit. Anfangs war ich sehr krank. Ich durfte aber nur bleiben, wenn ich arbeitete. Hart arbeiten. Also arbeitete ich. Das Allgäu nach dem Krieg. Keine schöne Zeit, nicht romantisch.“

Ein kräftiger Schluck Bier leert das Glas, er schwenkt das Glas vor Resis Augen, die sofort beginnt ein neues Bier zu zapfen. Vic fragt sich, ob Resi – wenn sie überhaupt Resi ist – zu hört, oder in ihren Gedanken wo anders ist. Eine Reaktion zeigt sie jedenfalls nicht. Erst als das neue Glas vor ihm steht, spricht Grabowski weiter.

„Ich ging so früh wie möglich zur Bundeswehr: Vielleicht wollte ich endlich eine Familie haben, vielleicht einen weiteren Krieg verhindern? Außerdem wollten die mich damals. Gaben mir eine Aufgabe, zu essen und Kleidung. Oder wenn dann schon mit machen. Wer weiss das? Aber in Wirklichkeit sah ich nachts das Gesicht; den Mann, der die Tür in der ersten richtigen Station auf unserer Flucht zu geschlagen hat; der Mann, der meiner Familie kein Wasser gegeben hat. Seinetwegen starb in jener Nacht meine Familie, und letztlich ich auch.

Als ich Waffenmeister wurde, merkte ich, wie leicht ich an Waffen kommen konnte. Als hätte ich immer nur dafür gearbeitet: Die Pistolen und Gewehre lagen auf einmal vor mir, als Erleuchtung, als Wegweiser, als … Ich dachte nur noch an Rache.

Jahrelang fuhr ich nach Neuburg, ich versuchte sogar dorthin versetzt zu werden, aber ich kam immer in andere Geschwader, ich hab das ganze Land gesehen Leck, Wittmund, Lagerlechfeld, Fursty, Uetersen, später den Osten dazu, bis ich wieder hier her kam. Um Waffenmeister bleiben zu könne habe ich sogar Beförderungen abgelehnt. Und einmal im Jahr war ich in Neuburg. Irgendwann musste er an mir vorbei kommen, das wusste ich.

Ja, so wie Sie das erzählt haben, Sohn, kommt man bei der Bundeswehr an eine Waffe. In etwa so geht das, jaja. Heute könne man allerdings auch irgendwo in den Osten fahren: Überall bekommst du alles. Ich hätte nicht auf Beförderungen verzichten müssen, um Waffenmeister zu bleiben. Ich hätte nur einen Urlaub in Polen machen müssen. Aber konnte ich das ahnen von 15 Jahren?

Rache.

Und als ich ihn dann sah, tat ich es. Ich fuhr wieder nach Kaufbeuren holte die P8, raste wieder nach Neuburg, setzte mich auf das Rad, und tötete ihn. Wenn Sies genau wissen wollen, ich habe nicht gezögert, keine Sekunde. Er hat damals die Türe wieder zu geschlagen.“

Fast senkrecht steigt der Rauch aus dem Aschenbecher auf, in dem Grabowskis Zigarette liegt. Ein leises Rauschen einer Kühlanlage ist das einzige Geräusch, das Victor hört. Grabowski trinkt. Als er floh, fühlte er sich gut. Als er wieder nach Hause kam, wusste er, dass sein Leben zu Ende war. Vielleicht hätte es schon im Waggon zu Ende gehen sollen, aber irgendein Irrtum im Himmel hat es verhindert.

Vic hält immer noch sein Bierglas fest. Das Kondenswasser ist längst an seinen Händen vorbei gelaufen, das Bier warm. Er hat nur einen kleinen Schluck genommen. Und er starrt immer noch auf Grabowski. Vics Geschichte ist wahr geworden: Er hat den Mörder gefunden und nun er sitzt ihm gegenüber.

Vic starrt weiter auf Grabowski, bis Resi ihn fragt, ob er ein neues Bier möchte. Vic dreht langsam den Kopf zu Resi, die ihn einfach nur fragend anschaut. Was soll er nun tun? Seine Geschichte hat er nur bis zu diesem Punkt im Kopf geschrieben. Nicht darüber nachgedacht, was er tut, wenn er seiner Beute gegenüber tritt, sie zur Strecke gebracht hat. Er hat gefunden, was er gesucht hat. Also geht er und sagt „Morgen werde ich Sie anzeigen.“ Sein zehn Euro-Schein ist zuviel für das Bier. Resi hält ihn irritiert hinter Vic her, der längst aus der dunklen Kneipe gegangen ist.

Aber morgen ist Grabowski bereits tot, selbst gerichtet. Ein Mann den niemand vermisst hatte, liegt in einer Wohnung, die nur er kennt; in der Hand eine P8, die keiner vermisst hat.

In der Neuburger Zeitung erscheint zu Pfingsten das Kalenderblatt mit der Erinnerung an den großen Neuburger Lokalpolitiker Grahammer. Daneben eine kleine, einspaltige Meldung. Sein Mörder sei noch immer nicht gefunden, die Fahndung gehe weiter. Niemand dürfe seinem Schicksal entgehen, sagte ein hochrangiger Polizeibeamter.

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